300 Jahre Petersburg

Sankt Petersburg halte ich für eine der schönsten und interessantesten Städte Europas. Zwischen 2008 und 2012 pendelte ich mehr oder weniger regelmäßig zwischen Köln und der Ostseemetropole hin und her, so häufig, das die ehemalige russische Hauptstadt fast schon zu meinem zweiten Zuhause wurde. Über die Stadt selbst, die von den Einheimischen meistens nur Piter genannt wird, wusste ich zu Beginn relativ wenig. Das änderte sich schnell durch meine ausgedehnten Spaziergänge, bei denen nicht nur mein Interesse für die Stadt und ihre geschichtlichen Hintergründe entfacht wurde, auch mein altes Hobby Fotografie hatte ich damals für mich wieder neu entdeckt.
Englisches Ufer
DIE OSTSEEMETROPOLE
Sankt Petersburg liegt in der östlichsten Bucht der Ostsee, die geographisch als Finnischer Meerbusen bezeichnet wird. Die Stadt entstand ursprünglich rund um eine militärische Festung im Mündungsgebiet der Newa, einer der wasserreichsten (und kürzesten) Flüsse Europas. Sankt Petersburg ist mit einer Fläche von 1400 Quadratkilometern und einer Bevölkerung von etwa fünf Millionen Einwohnern Russlands zweitgrößte Stadt und nach Moskau, London und Istanbul die viertgrößte Stadt in Europa. Das über mehrere Inseln verteilte Zentrum der Stadt besteht heute aus einem über 50 Quadratkilometer großen architektonischen Komplex, der 1991 unter den Schutz der UNESCO gestellt wurde. Im Zentrum und in einigen Vororten befinden sich über 2500 denkmalgeschützte Bauwerke, vorwiegend aus der Zeit, als Sankt Petersburg noch Hauptstadt des Russischen Reichs war.
Neue und Alte Eremitage
Nach der Revolution 1917 verlor die Stadt ihr Hauptstadt Privileg und wurde zu einer nördlichen Provinzhauptstadt ohne besonderen Status. Im Gegensatz zu Moskau, das unter Stalin zur Vorzeigestadt ausgebaut werden sollte, blieb die ehemalige Zarenmetropole von Stalins Planierraupen und dem darauf folgenden sozialistischen Neo-Klassizismus größtenteils verschont. Sankt Petersburg ist eine relativ junge Stadt, etwa 50 Jahre jünger als New York. In ihrer Blütezeit bestimmte sie aber als Hauptstadt Russlands das europäische Schicksal über 200 Jahre entscheidend mit und stand in dieser Zeit auf einer Stufe mit Wien, Paris oder London. Die touristische Anziehungskraft Sankt Petersburgs lebt heute hauptsächlich von dieser imperialen Vergangenheit, aber Sankt Petersburg hat weitaus mehr zu bieten als vergoldete Kuppeln und Zaren-Mythos.
Leutnant Schmidt Brücke (Blagoveschenskiy Most) während der Weißen Nächte
Der unnachahmliche Charme der Stadt wird von den geographischen Gegebenheiten einer Hafenstadt am 60. Breitengrad und durch seine Bewohner wesentlich mitbestimmt. Sankt Petersburg liegt am selben Breitenkreis wie Oslo, Helsinki oder die Südspitze Grönlands, aber nirgendwo sonst verzaubert das einzigartige Phänomen der Weißen Nächte mehr als in der nördlichsten Millionenstadt der Welt. In dem 20 Tage dauernden Spektakel verschwindet die Sonne nach Mitternacht nur kurz hinter dem Horizont und erzeugt dabei ein blau-silbriges Licht, das die Stadt in einem ganz besonderen Glanz erleuchten lässt. Für Sankt Petersburg bedeuten die Weißen Nächte den Beginn der Sommersaison, verbunden mit einer Reihe von Festivals und anderen Veranstaltungen locken die Weißen Nächte in dieser Zeit zigtausende Besucher in die Stadt.
Neu-Holland
Die weißen Nächte zum Ende des Frühlings und der Herbstbeginn eignet sich am besten für eine Reise nach Sankt Petersburg, aber auch im Winter ist die Stadt durchaus eine Reise wert. In den Wintermonaten ist Sankt Petersburg zwar oft von grauen Wolken verdeckt, aber dafür sind die Stadt und die Sehenswürdigkeiten in dieser Zeit weit weniger überlaufen als in den Sommermonaten, die Hotels sind wesentlich günstiger und die Museen kann man auch ohne lange Warteschlangen besuchen. Das man hier besonders auf wintergerechte Kleidung achten muss versteht sich von selbst, nur so wird man die meistens tief verschneite Stadt und die winterlich-märchenhaften Parkanlagen der Vorstadt-Paläste richtig genießen können.
Der Eherne Reiter, Peter der Große (1672-1725)
DIE ROMANOW'S
Geschichtliche Hintergründe helfen enorm beim Verständnis der west-europäisch wirkenden Stadt und ihrer Bauphasen. Die spannende Geschichte Sankt Petersburgs ist eng mit der Geschichte der Romanow Dynastie verbunden, ein altes russisches Adelsgeschlecht, das seinen Ursprung im Großfürstentum Litauen hatte und sich ab Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem deutschen Hochadel vermischte. Zar Peter I, dritter und letzter großer Zar der ursprünglichen Dynastie, wurde als Stadtgründer und tyrannischer Stadtplaner zum Mythos. Die schrecklichen Erfahrungen in Moskau, bei der in seiner Gegenwart mehrere Verwandte hingerichtet wurden und seine legendären Bildungsreisen quer durch Europa führten bei ihm zu einer ausgeprägten Abneigung gegen alles Altmoskowitische und zum Wunsch der Modernisierung Russlands nach westlichem Vorbild. Er wurde zum großen Reformer, der Russland modernisierte, die Kirche vom Staat trennte und sein Volk kulturell näher an Europa brachte. Nach Peter dem Großen war die Geschichte der Stadt immer eng mit der deutschen Kultur verknüpft, auch wenn die Beziehungen nicht immer die besten waren. Ein Grund hierfür war sicherlich auch das alle Zaren (bis auf eine Ausnahme) mit deutschen Frauen verheiratet waren oder wie Zarin Katharina direkt aus dem deutschen Hochadel stammten.
Peter & Paul Festung auf der Insel Zayachii (Haseninsel)
Die Festung Peter und Paul ist das historische Zentrum Sankt Petersburgs. Im Großen Nordischen Krieg gelang es Zar Peter in einer Allianz mit Sachsen, Polen, Dänemark und Norwegen die Vormacht der Schweden zu brechen und sie aus dem von der Newa durchquerten Ingermanland zu vertreiben. Das damals hauptsächlich von Fischern und Bauern besiedelte Ingermanland wurde im Mittelalter durch eine Mitgift der schwedischen Königstochter Ingegärd zu einer russischen Provinz im Nord-Westen Russlands. Bereits seit Wikingerzeiten hatte die Newa eine besondere strategische Bedeutung als wichtige Handelsroute von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer. Nachdem russische Soldaten die 1617 errichtete schwedische Festung Nynschantz eingenommen hatten, ließ Zar Peter etwas weiter flussabwärts, im Mündungsgebiet der Newa, eine neue Festung errichten, die zunächst den holländischen Namen Sankt Piterburch bekam, benannt nach dem Schutzpatron des Zaren. Der Tag der Gründung, an dem Peter der Große nach einer Legende selbst den Grundstein gelegt haben soll, wird nach dem gregorianischen Kalender am 27. Mai jedes Jahr aufwändig als Stadtgeburtstag gefeiert. Auf der Festung, die militärisch nie bedroht war und nur als brutales Bastions-Gefängnis gefürchtet war, befindet sich die Peter Paul Kathedrale mit den Gräbern aller Zaren seit Peter dem Großen, ausgenommen ist nur Zar Peter II., der in Moskau begraben wurde.
Zar und Zimmermann, Denkmal für Peter dem Großen am Admiralitätskai
Nachdem Peter der Große zum Alleinherrscher geworden war, unternahm er seine 16 Monate lange legendäre "Bildungsreise" quer durch Europa, die zwar auch einen diplomatischen Hintergrund hatte, aber von Zar Peter hauptsächlich als Studienreise genutzt wurde. Zum größten Teil inkognito, besuchte er in einer „Großen Gesandtschaft“ baltische und deutsche Länder, England und Österreich. Am längsten hielt sich Zar Peter in Holland auf, wo er in Zaandam und in Amsterdam eine über fünf Monate dauernde Ausbildung zum Schiffszimmermann absolvierte. Die aus über 300 Personen bestehende und mit unterschiedlichen Aufgaben beauftragte Gesandtschaft brachte aus Westeuropa nicht nur neues Wissen und neue Ideen mit, sondern auch über 1000 Handwerker und Spezialisten für den Aufbau einer russischen Flotte. Nach dem Bau der Festungsanlage holte der Zar einige der besten europäischen Architekten, Künstler und Handwerker an die Newa und ließ nach Amsterdamer Vorbild eine einzigartige, sorgfältig durchgeplante Stadt auf dem sumpfigen Boden des Newa Deltas errichten.
Isaak Kathedrale
An menschlichen Arbeitskräften herrschte damals kein Mangel, anders bei Baumaterial und Steinen. Zar Peter erließ eine Verordnung, die in Russland alle Steinbauten außerhalb der neuen Hauptstadt verbot. Im Westen war man verblüfft, wie schnell in Russland eine Stadt aus den Sümpfen emporgewachsen war, bereits 1713 wurde in Europa ein Buch veröffentlicht, in dem Petersburg als „achtes Weltwunder“ bezeichnet wurde. Aus der Zeit Peter des Großen existieren heute neben der Peter Paul Festung noch einige weitere Gebäude wie sein erster Wohnsitz, eine mit einem Steinbau geschützte Blockhütte, sein schlichter, im holländischen Stil gebauter Sommerpalast am gegenüberliegenden Ufer der Newa, das erste Museum Russlands, die Kunstkammer, das Newski Kloster, die 'Zwölf Kollegien' auf der Wassiljewskij Insel und Peterhof vor den Toren der Stadt. Auch die Paläste seiner Mitstreiter Menschikow und Kikin sind erhalten geblieben, die meisten Regierungsbauten aus seiner Zeit wurden jedoch von seinen Nachfolgern durch pompösere Bauwerke ersetzt.
Schlossbrücke und Winterpalast
Nach Peter dem Großen, der 1725 ohne einen geregelten Nachfolger starb, wurde Sankt Petersburg für die nächsten hundert Jahre vor allem von Frauen geprägt. Auf Peter I folgte für kurze Zeit seine Witwe Katharina I und danach sein zwölfjähriger Enkel Peter II., der aber schon drei Jahre später in Moskau an Pocken starb. Durch den Geheimen Rat der Bojarenduma kam nun Zarin Anna Ioannowna an die Macht. Die Halbnichte von Peter I. hatte die meiste Zeit ihres Lebens in Deutschland verbracht und brachte Minister, Berater und ihren Vertrauten, den genusssüchtigen und grausamen Herzog von Kurland, Ernst Johann von Biron mit nach Petersburg. Deutsche und Ausländer sind unter Anna Ioannowna zu großer Machtfülle gelangt und waren beim russischen Adel daher entsprechend unbeliebt. Herzog Biron wurde nach Annas Tod verhaftet und mit seiner Familie nach Sibirien verbannt. Das anschließend ein nur zwei Monate altes Baby aus Braunschweig zum Zaren ernannt wurde, beendete die Geduld der russischen Opposition und von Peters Tochter Elisabeth, die sich nun mit Hilfe eines Garderegiments unblutig an die Macht putschen konnte.
Akademie der Künste
Zarin Elisabeth I. war für den Ausbau der Stadt eine würdige Nachfolgerin Peters des Großen, in ihrer 20 jährigen Herrschaftszeit blühte Petersburg auf und wurde zu einer der führenden Metropolen in Europa. Unter Elisabeth wuchs die städtische Bevölkerung von 95.000 auf 150.000 Einwohner an. Politik und Regierungsgeschäfte überließ sie meistens ihren Beratern und ihrem ukrainischen Liebhaber Graf Alexei Rasumowski, sie kümmerte sich hauptsächlich um ausschweifende Feste und den Bau zahlreicher barocker Schlossanlagen. Sie förderte Kunst und Kultur und führte einen verschwenderischen Hof, in Moskau gründete sie die erste russische Universität, in Petersburg die Akademie der Künste und das erste russische Nationaltheater. Elisabeths Hofarchitekt Bartolomeo Rastrelli arbeitete mit seinem Vater bereits als 16-jähriger für Peter dem Großen. Für Kaiserin Elisabeth errichtete er den Winterpalalast, den Palast in Peterhof, den Katharinenpalast in Zarskoje Selo und das Smolny Kloster. Elisabeth I. blieb für immer kinderlos und offiziell unverheiratet, mit ihr starb die ursprüngliche russische Dynastie der Romanows aus. 1742 ernannte sie Peter III als Nachfolger, er war der Sohn ihrer Schwester Anna Petrowna und des Herzogs Karl Friedrich von Schleswig-Holstein-Gottorf.
Winterpalast (Eremitage)
GROSSMACHT RUSSLAND
Den größten Einfluss auf die Geschichte Sankt Petersburgs hatte die deutsche Fürstentochter und Prinzessin Sophie Auguste von Anhalt-Zerbst-Dornburg, die 1745 im Alter von 14 Jahren nach Petersburg aufgebrochen war um Peter III. zu heiraten. Sie wechselte zum orthodoxen Glauben und machte später als Katharina II Karriere, die einzige Monarchin, der je der Beiname 'die Große' verliehen wurde. Sechs Monate nach dem Elisabeth I. gestorben war und Peter III. den Thron übernommen hatte, putschte Katharina II mit Hilfe eines Garderegiments gegen ihren Ehemann. Sie ließ sich von der Orthodoxen Kirche zur Alleinherrscherin erklären und unterstützte wahrscheinlich die Gefangenahme und Ermordung ihres Ehemanns, die Meinungen der Historiker sind in dieser Sache geteilt. Unter Katharina wurde Russland zum ersten Mal eine europäische Großmacht. In zwei Russisch-Türkischen Kriegen eroberte sie weite Küstengebiete am Schwarzen Meer, annektierte die Krim und große Teile der Ukraine. Mit Beteiligung von Österreich und Preußen wurde die Polnische Republik aufgelöst und zwischen den Großmächten aufgeteilt. Russland hatte durch Katharina's Kriege etwa 6 Millionen Einwohner und eine Million Quadratkilometer hinzugewonnen, eine Fläche die etwa dreimal so groß ist wie das heutige Deutschland.
Blick über die Newa Richtung Marsfeld
Unter der 34-jährigen Regierungszeit Katharinas wurden die Deutschen zur größten Minderheit in Russland und blieben es bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Zarin Elisabeth hinterließ ein hochverschuldetes Reich, trotzdem wandelte sich Sankt Petersburg unter Katharina zu einer der schönsten Hauptstädte Europas. Die Zarin führte im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus umfangreiche Reformen in der Innen und Verwaltungspolitik durch, gründete erste Volksschulen und Gymnasien, Krankenhäuser und Obdachasyle, versprach eine Religionsfreiheit und stärkte die Privilegien des Adels. Die Leibeigenschaft blieb unter der aufgeklärten Monarchin jedoch unangetastet. Wie Peter der Große und Zarin Elisabeth kannte auch sie kaum Grenzen in der Erweiterung und Modernisierung der Stadt. Dem bescheidenen Stil Peters und dem pompösen Barock Elisabeths folgte der erhabene katharinische Klassizismus. Sie ließ die Newa und ihre Nebenarme mit Granit verkleiden und verlangte in einer Zeit, in der Europas Hauptstädte noch aus engen, verwinkelten Gassen bestanden, breite, schnurgerade Prospekte und riesengroße Plätze anzulegen. Sie beauftragte einzigartige Bauwerke wie die Isaak-Kathedrale, den Marmorpalast, das Taurische Palais oder den Anitschkow Palast. Die machtbewusste Zarin förderte Kunst und Kultur und legte mit aufgekauften Bibliotheken und Kunstsammlungen den Grundstein für die Russische Nationalbibliothek und das heute weltberühmte Eremitage Museum.
Kasaner Kathedrale
Auf Katharina II. folgte ihr Sohn Paul I., der sofort nach der Geburt von seiner Mutter getrennt wurde und bei einer Großtante aufwuchs. Es wird angenommen, dass er ein Produkt einer der zahlreichen Seitensprünge Katharinas war und ihm das auch bekannt war. Der cholerische und preußen-freundliche Paul unternahm alles um die Politik seiner Mutter rückgängig zu machen und um Bürger und Adel gegen sich aufzubringen. Er verletzte viele Rechte seiner Untertanen, verbot Wörter wie 'Bürger', 'Vaterland' und 'Gesellschaft', er demoralisierte die Armee indem er die Wehrpflicht abschaffte und über dreihundert verdiente Generäle und sieben Feldmarschälle entließ, er beschränkte die Macht der Großgrundbesitzer und entließ politische Gefangene aus der Zeit seiner Mutter. In der Außenpolitik verschlechterte er die Beziehung zu fast allen Verbündeten. Er dürfte geahnt haben was ihm bevorstand, jedenfalls versuchte er sich noch mit einem neu errichteten "Hochsicherheits-Palast" zu schützen, allerdings vergeblich. Einige Tage nach dem Einzug in den neuen Palast, am 11. März 1801, wurde sein unbegrenzter russischer Absolutismus vom Grafen Palen und Fürst Subow mit tödlichen Würgegriffen beendet. Kurz vor seinem Tod beauftragte er noch den Bau der Kasaner Kathedrale am Newski Prospekt. Der Zar hinterließ der Stadt nur seinen Palast, der nach seinem Tod als Ingenieursschule benutzt wurde, da von den Romanows niemand mehr in dieser unsicheren Wasserburg wohnen wollte.
Barclay de Tolly Denkmal vor der Kasaner Kathedrale
Von den russischen Zaren beeinflusste Alexander I die europäische Geschichte vermutlich am stärksten. Er war der älteste Sohn von Paul I und seiner zweiten Frau Prinzessin Sophia von Württemberg. Der Lieblingsenkel von Katharina II kam 24-jährig nach der Ermordung seines Vaters auf den Thron. Alexander versuchte anfangs mit idealistischem Eifer die Innenpolitik seines Vaters zu revidieren. Er entließ tausende politische Gefangene, erleichterte teilweise das Leben der Leibeigenen, verbot Folter und Prügelstrafe und öffnete den Weg zu liberalen Ideen. Bevor Napoleon seine Soldaten nach Russland abkommandierte durften sich die baltischen Länder noch über die Aufhebung der Leibeigenschaft freuen, mit Napoleon kamen aber die Gedanken der Französischen Revolution nach Russland, die im Laufe der Zeit Alexanders Geisteshaltung grundlegend veränderten. In der nachnapoleonischen Zeit sah er die Monarchie bedroht und initiierte die christlich fundamentalistische Heilige Allianz, um das monarchistische Herrschaftssystem europaweit zu schützen. Unter Alexanders Regentschaft entstand eine immense Bürokratie, politische Unterdrückung und eine mächtige Geheimpolizei. Außenpolitisch hatte der mit der deutschen Prinzessin Louise von Baden verheiratete Zar durchaus Erfolge vorzuweisen, mit kluger Politik konnte er Napoleon aus Russland vertreiben und zusammen mit Österreich und Preußen gelang es ihm Napoleon zu besiegen und in Paris einzumarschieren. Als einer der einflussreichsten und mächtigsten Teilnehmer am Wiener Kongress beeinflusste er die europäische Neuordnung maßgeblich.
Strelka und Börse
REVOLUTIONÄRE ZEITEN
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Sankt Petersburg zu einer der schönsten, prächtigsten und mächtigsten Hauptstädte Europas ausgebaut. Unter Zar Alexander I wurde die Admiralität erweitert, auf der Strelka entstand das Ensemble um die Börse und die Rostral Säulen. Vor allem Carlo Rossi, Sohn einer italienischen Ballerina und Hofarchitekt Alexanders, durfte mit seinen geradlinigen und strengen Bauwerken die neue Macht Russlands repräsentieren, die Petersburg in dieser Zeit den Ruf, ein neues Rom zu sein, einbrachten. Unter Rossi entstanden in Petersburg der Jelagin Palast, der berühmte Schlossplatz mit dem Triumphbogen und Generalstabsgebäude, der Platz der Künste mit dem Michael-Palast, das Alexandra Theater mit der nach ihm benannten Rossi-Straße und das Senat-Synod Gebäude. Wegen seiner Lage am Meer und seinem Tor zum Westen entwickelte sich Sankt Petersburg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem industriellen Zentrum Russlands, vor allem im russischen Eisenbahn - und Stahlbau. Einhergehend wählten die wichtigsten Banken und Versicherungsgesellschaften Sankt Petersburg zu ihrem Hauptstandort. Nach Alexanders Tod, der keine Söhne als potentielle Thronfolger hinterließ, wuchs die Unzufriedenheit der Bürger und Offiziere über das reform-resistente Zarentum, das schließlich zum Aufstand der Dekabristen führte. Nach einer chaotischen Bekanntgabe des Hofs, in der Großfürst Konstantin zum Nachfolger Alexanders erklärt wurde, dieser aber auf die Krone verzichtetet, ging die Macht an seinen davon noch uninformierten Bruder Nikolaus I. Pawlowitsch.
Blick von der Festung auf die Admiralität und Isaak Kathedrale
Nikolaus I. war von seiner Familie ausschließlich für militärische Aufgaben vorgesehen und erhielt eine dementsprechende Erziehung. Adelige Offiziere, die im Krieg gegen Napoleon liberale Ideen aus Westeuropa mitbrachten, entschieden sich nun die Gunst der Stunde zu nutzen. Sie forderten eine Konstitutionelle Monarchie und verweigerten dem neuen Zaren den Eid. Am Senatsplatz zwischen Admiralität, Isaak-Kathedrale und dem Senatsgebäude kam es am 14. Dezember 1825 zur ersten großen Petersburger Revolte, bei der eine Verfassung zur Eingrenzung der Autokratie gefordert wurde und Nikolaus zum Thronverzicht aufgefordert wurde. Der Aufstand der Dekabristen wurde von regierungstreuen Truppen mit Kanonensalven blutig niedergeschlagen. Nikolaus der I wurde nun zum Bewahrer einer monarchistischen Ordnung, die sich vor allem auf eine ausgeprägte Bürokratie und auf ein brutales Polizeiregime stützte. Auch die Heilige Allianz belebte er neu. Als Folge dieser Politik begannen sich in ganz Russland verstärkt geheime Bünde und oppositionelle Bewegungen zu formieren. Unter Nikolaus I begann die Industrialisierung Russlands, es wurde die erste Eisenbahn Russlands und die erste ständige und aufklappbare Brücke über die Newa gebaut. Sankt Petersburg war in dieser Zeit mit 448.291 Einwohnern die größte Stadt Russlands.
Gribojedow Kanal und Erlöserkirche
Auf Nikolaus I. folgte Alexander II, der umfangreiche Reformen einleitete, zu der neben einer neuen Militärorganisation auch die Aufhebung der Leibeigenschaft gehörte. Durch kräfteraubende Kriege im Balkan, Kaukasus und auf der Krim war Alexander II zum Umdenken gezwungen. Die Leibeigenschaft wurde nicht aus sozialen oder liberalen Gründen aufgehoben, sondern wegen dem Mangel an Arbeitskräften, der in der beginnenden Industrialisierung Russlands entstanden war. Durch die Aufhebung der Leibeigenschaft verdoppelte sich die Bevölkerung Sankt Petersburgs noch während der Regentschaft Alexanders. Russland verlor wegen einer rückständigen (Kriegs)Wirtschaft seine dominierende Rolle, die es nach den napoleonischen Kriegen in Europa gespielt hatte. Um die leeren Kriegskassen zu füllen, entschloss sich Alexander II das damals noch russische Alaska für 7,2 Millionen Dollar an die Vereinigten Staaten von Amerika zu verkaufen. Die Art der Aufhebung der Leibeigenschaft, die vor allem den Interessen der Großgrundbesitzer entgegen kam, führte aber nicht zur Beseitigung der sozialen Gegensätze sondern zur Entstehung eines sozialen Pulverfasses, dem Alexander im Jahre 1881 selbst zum Opfer fiel. Schon in der Regierungszeit seines Vaters gründeten sich erste geheime Widerstandsgruppen, die eine Abschaffung der Monarchie forderten. Die sozialen Verhältnisse in Petersburg führten zu einer Reihe von blutigen Anschlägen auf das Zarenhaus. Alexander II hatte bereits mehrere Attentate überstanden, als er am Gribojedow Kanal einen Bombenanschlag der konspirativen Gruppe Narodnaja Wollja (Volkswille) nicht überlebte. Beim Verlassen des Michailowski-Palast wurde er in seiner Kutsche von einem mit Dynamit gefüllten Behälter getroffen und starb wenige Stunden später an seinen schweren Verletzungen.
Liteiny Brücke
Mit dem Attentat auf Alexander II kündigte sich das Ende der Romanow Dynastie an. Durch andauernde Kriege, Armut, und durch unmenschliche Wohn und Arbeitsbedingungen entstand in der Gründerzeit eine Atmosphäre, die Sankt Petersburg zur „Wiege der Revolution“ machte. Die Bevölkerung war in der Stadt mittlerweile auf etwa 900.000 Einwohner angewachsen. Unter Alexander III kam es wegen des Attentats auf seinen Vater zu Pogromen und einer Russifizierung, die sich nicht nur in der bildenden Kunst mit einer Rückkehr zur Folklore und Orientierung auf die altrussische Geschichte bemerkbar machte. Die von ihm beauftragte Auferstehungskirche, an der Stelle des Attentats auf seinem Vater, wurde nach dem Vorbild der Moskauer Basilius-Kathedrale gestaltet. Wegen Differenzen mit Otto von Bismarck verschärfte sich das traditionell gute Verhältnis zu Deutschland, Russland näherte sich nun mehr dem von Bismarck isolierten Frankreich an. Alexander III hatte letztendlich nur zwei Verbündete, das Militär und die Marine, mit denen er das Land schrittweise in Zentral und Ostasien erweitern wollte. Innenpolitisch löste er eine Welle der Reaktion aus, als er die Synode mit erheblichen Vollmachten ausstattete, die meisten Liberalisierungsreformen seines Vaters aufhob, die Zensur verstärkte, und die berüchtigte Geheimpolizei 'Ochrana' gründete, die ihm alle anarchistischen Agitatoren vom Leib und in Schach halten sollten. Eine große Cholera Epidemie und die große Hungersnot von 1891 bereiteten den Boden für die Saat, aus der nun ein Heer von proletarischen Revolutionären erwuchs. Alexander III starb jedoch nicht durch Terroristenhand sondern an einer schweren Nierenerkrankung, die durch Spätfolgen eines Zugunfalls, einige Historiker meinen wegen Alkoholzuneigung, ausgelöst worden sein soll.
Dreifaltigkeitskapelle auf der Petrograder Seite
Der heute von der orthodoxen Kirche als Heilig verehrte Nikolaus II war der letzte Zar Russlands. Er war Cousin des englischen Königs George V und angeheirateter Cousin des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II. 1894 wurde der 26-jährige Zarewitsch zum neuen Zar ernannt. Zwei Jahre später kam es bei den Krönungsfeierlichkeiten am Chodynkafeld in Moskau, bei dem Geschenke und Essen an das Volk verteilt werden sollten, zu einer Massenpanik, bei der 1389 Menschen starben und weitere 1300 verletzt wurden. Der neue Kaiser besuchte fast den ganzen Tag Verletzte in Krankenhäusern, amüsierte sich aber noch am selben Tag der Tragödie auf einem Ball in der französischen Gesandtschaft. Seitdem wurde Nikolaus II in Russland als ein Kaiser wahrgenommen, der sich nicht um sein Volk kümmert. In der Regierungszeit von Nikolaus II kam es zur schnellen Weiterentwicklung und Monopolisierung der Industrie und zur Proletarisierung und Verarmung der Städte. In Sankt Petersburg war die Bevölkerung auf mittlerweile knapp 1.3 Millionen Menschen angewachsen. Die sozialen Spannungen wurden im ganzen Land immer unübersehbarer, der autokratische Zar weigerte sich aber die feudalen Zustände zu reformieren und ließ stattdessen den aufkeimenden Widerstand der neu entstandenen Bürger und Arbeiterschaft durch seine Geheimpolizei verfolgen. Nach dem verlorenen Russisch-Japanischen Krieg erfasste im Januar 1905 ein Generalstreik fast ganz Sankt Petersburg und führte am 9. Januar zum Petersburger Blutsonntag, bei dem der Zar auf friedliche Demonstranten, in der Mehrzahl Fabrikarbeiter, schießen ließ. In der Folge kam es im ganzen Land zu Streiks und Aufständen, der Blutsonntag gilt seitdem als Auslöser für die 1. Russische Revolution.
Blick von der Schlossbrücke Richtung Westen
1905 stand Russland nach dem verlorenen Russisch-Japanischen Krieg kurz vor dem Bankrott. Finanzielle Hilfe kam von Frankreich, es wurden aber Bedingungen gestellt, die Russland später in den Ersten Weltkrieg manövrieren sollten. Die Bedingungen für einen 2.2 Millionen Goldfranken Kredit waren die Einführung einer konstitutionellen Monarchie und der Beitritt Russlands zur Entente, einer Interessensgemeinschaft von England und Frankreich, die die Einflussgebiete der Verbündeten in Asien regelte. Der Zar musste nun eine Reform akzeptieren, die von seinem ehemaligen deutsch-baltischen Finanzminister und Chefunterhändler bei den Friedensverhandlungen in Porthmouth, Julius Witte ausgearbeitet wurde. Mit der Einführung einer beratenden Duma (Stadt oder Staatsrat) wurde Witte zum ersten Regierungschef Russlands und mit ihm unterstellten Ministern, die zuvor nur dem Zar verantwortlich waren. Das von Witte verfasste Oktobermanifest, das die wichtigsten bürgerlichen Grundrechte wie Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit gewährte, sollte ein immer wieder streikendes und demonstrierendes Volk beruhigen und einer drohenden Revolution vorbeugen. Die Bolschewiken lehnten das Manifest als 'Betrug' und 'unbefriedigend' ab, da der Zar immer noch eine große Macht ausübte und mit einem Vetorecht die Duma blockieren konnte. Der Zar blockierte nicht nur, zwei Jahre später löste er die zuvor gewählte Duma auf und machte den Monarchisten Pjotr Stolypin zum neuen Premierminister.
Moika am Jussupow Palast
Zar Nikolaus II verbrachte die meiste Zeit mit seiner Familie in Zarskoje Selo (Zarendorf) und kümmerte sich nur nebenbei um staatliche Politik. Der Zar war mit einer Enkeltochter der englischen Queen Victoria, Prinzessin Alice von Hessen-Darmstadt verheiratet. Die beim russischen Adel wegen ihrer Herkunft unbeliebte Zarin sorgte für den langersehnten Thronfolger Alexej, der aber wegen eines genetischen Defekts an Hämophilie litt. Da die russischen Mediziner mit der damals noch gefährlichen Bluterkrankheit überfordert waren, wandte sich die Zarin an den sibirischen Wunderheiler und Wanderprediger Grigori Rasputin, da dieser Verletzungen des jungen Zarewitsch angeblich mit Gebeten heilen konnte. Als Russland mit einem Überfall auf Ostpreußen in den Ersten Weltkrieg einstieg, entschloss man sich die Hauptstadt in Petrograd umzubenennen, da Petersburg für die russische Kriegspropaganda nun zu Deutsch klang. Der Zar reiste an die Front und überließ seiner Frau die Regierungsgeschäfte. Dadurch hatte Rasputin nicht nur großen Einfluss auf die Zarin, sondern indirekt auch auf den Zar und dessen Politik. Dies blieb in Petersburg nicht lange unbemerkt und verstärkte den Hass des russischen Adels auf Zarin Alexandra noch mehr. Nach mehreren überlebten Attentatsversuchen wurde der nicht sterben wollende Rasputin im Dezember 1916 von Fürst Felix Jussupow und anderen Mitgliedern aus dem Romanow Umfeld gefoltert, mehrmals erschossen und schließlich in der Newa ertränkt.
Panzerkreuzer Aurora
REVOLUTION
Das Leid des 1.Weltkriegs beendete die Blütezeit und die Zarenherrschaft von Sankt Petersburg. Die Geduld des gebeutelten und hungernden Volks war zu Ende und geriet außer Kontrolle. Ende Februar 1917 begann ein unbefristeter Streik in den Arbeitervorstädten, mit dem sich zusätzlich 70.000 Soldaten der Petrograder Garnison solidarisierten. Zar Nikolaus II musste am 2. März abdanken und einer provisorischen Regierung aus konservativen Bürgerlichen, Arbeitern und Soldatenräten die Macht überlassen. Nachdem die provisorische Regierung unter Georgi Lwow im Juli-Aufstand 1917 auf regierungsfeindliche und umsturzbereite Demonstranten schießen ließ, trat Lwow zurück und überließ seinen Kriegs und Marineminister Alexander Fjodorowitsch Kerenski die Führung. Der mit Unterstützung des deutschen Kaisers aus dem Schweizer Exil zurückgekehrte und jetzt von der Polizei gesuchte Bolschewikenführer Wladimir Iljitsch Uljanow, besser bekannt unter seinem Kampfnamen 'Lenin', konnte nach dem gescheiterten Juli Aufstand in das nahe Finnland flüchten und von dort mit den Vorbereitungen für einen neuen, bewaffneten Aufstand beginnen. Im Oktober 1917 kehrte er aus Finnland zurück und drängte seine Bolschewiken zum gewaltsamen Sturz der provisorischen Regierung. Am 22. Oktober übernahmen die Petrograder Arbeiter und Bauernräte (Sowjets) unter Führung von Leo Trotzki die Befehlsgewalt über die Garnisonen der Hauptstadt. Drei Tage später, am 25.Oktober, begann der Aufstand. Mit einer Platzpatrone aus der Bugkanone des Kreuzers Aurora wurde das Signal zum Sturm auf den Winterpalast gegeben, bei dem Teile der dort versammelten provisorischen Regierung verhaftet wurden. Einen Tag später verkündete Lenin über die Funkanlage der Aurora den Sieg der Revolution.
Alexandergarten
Im Dezember 1917 kam es zum Waffenstillstand mit Deutschland und im März 1918 zum Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Der Friedensvertrag bedeutete das Ende des Hauptstadt-Status, Moskau wurde zum neuen Machtzentrum. Kapitalistische Institutionen wie die Petersburger Börse wurden nun geschlossen. Im Anschluss kam es in Russland und in den von Russland annektierten Nachbarländern zu einem fürchterlichen Bürgerkrieg, bei dem die von Leo Trotzki neu gegründete 'Rote Armee' gegen eine 'Weiße Armee', eine auch von ausländischen Kräften unterstützte lose Koalition von Antikommunisten, kämpfte. Aus Angst vor einer Befreiung und einer Wiederherstellung der Monarchie wurde der gefangen gehaltene Zar Nikolaus am 16.Juli 1918 mitsamt seiner Familie im weit entfernten Jekaterinenburg hingerichtet. Der von der Roten Armee gewonnen Krieg dauerte in Russland bis 1920, forderte über 8 Millionen Menschenleben, verwüstete das Land und brachte eine zweijährige Hungersnot mit sich. Durch die beiden Kriege schrumpfte die Bevölkerung Petersburgs von zuvor 2 Millionen auf etwa 700.000 Einwohner. Geändert hatte sich für die Bevölkerung in der Nachkriegszeit nicht viel, das Leid war nach wie vor groß, es mangelte vor allem an Lebensmittel und Heizmaterial. Zum ersten Mal rebellierte ein wichtiger Teil der Parteibasis ohne dem die Revolution nicht gelungen wäre. Da keine wie vorher dem Volk versprochene Räterepublik eingesetzt und stattdessen eine Diktatur der Volkskommissare ausgeübt wurde, kam es im März 1921 zum Aufstand der Kronstädter Matrosen. Die Bolschewiken riefen das Kriegsrecht aus und beendeten den Aufstand blutig, nur ganz wenige Matrosen konnten sich über die zugefrorene Ostsee nach Finnland retten.
Singergebäude / Haus des Buches (Dom Knigi) am Newski Prospekt
SOWJETUNION
Im Dezember 1922 erklärte das kommunistische Regime einen Großteil des alten zaristischen Russlands zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, der UdSSR. In Sankt Petersburg wurde noch während des Bürgerkriegs ein neues Filmstudio (das spätere Lenfilm) gegründet und die heute noch existierende Buchhandlung, das "Haus des Buches" am Newski Prospekt eröffnet. Drei Monate nach Lenins Tod am 21. Januar 1924 wurde ihm zu Ehren Petrograd in Leningrad umbenannt. Mit Lenins Neuer Ökumenischer Politik, die in den letzten beiden Jahren seines Lebens der Landwirtschaft, Industrie und dem Handel minimale Freiräume ließ, marktwirtschaftliche Züge besaß und die zuvor eingeführte Planwirtschaft ablöste, war es nun vorbei. Gegen Lenins Willen wurde ein georgischer Kommunist, der in Georgien noch wegen Bankraub, Schutzgelderpressung und Mord gesuchte Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili, Kampfname Josef Stalin (der Stählerne) zum neuen Generalsekretär der Partei ernannt. Stalin hatte bereits 1922 die Führung der Partei übernommen und die Macht in seinen Händen konzentriert. 1924 hatte er sich bereits der meisten seiner innerparteilichen Rivalen entledigt und eine Politik der landwirtschaftlichen Kollektivierung begonnen, die zwischen 1932 und 1933 zu einer kollosalen Hungersnot führte, bei der bis zu 10 Millionen Menschen gestorben sein sollen.
Admiralitätswerft
Erfolgreicher war Stalin mit der Industrialisierung der UdSSR, die um 1934 einen Anteil von 10% der Weltindustrieproduktion erreichte und damit den 2. Platz hinter der USA belegte. 1934 wird Stalins Mitstreiter und Statthalter in Sankt Petersburg, Sergej Kirow, ermordet. Der Mord an dem in Petersburg beliebten Parteiführer wurde nie vollständig aufgeklärt, es wird aber von den meisten Historikern angenommen, das Kirow zu mächtig für Stalin wurde. Stalin, der sich seit 1927 offiziell als „Führer“ titulieren ließ, hatte schon zwischen 1928 und 1929 mit den ersten "Intellektuellensäuberungen" begonnen. Den Mord an Kirow verwendete Stalin als Anlass für eine weitere, fünfjährige Säuberungsaktion, bei der unzählige Menschen getötet und etwa 15 Millionen Menschen verhaftet oder in einen Gulag (Arbeitslager) verschleppt wurden.
Plakat aus der Zeit der Blockade
BLOCKADE LENINGRADS
Stalins Säuberungen betrafen auch die Rote Armee, bei der fast zwei Drittel der Offiziere, die meisten mit Kriegserfahrung aus der Zarenzeit, beseitigt wurden. Ein folgenschwerer Fehler wie sich bald herausstellen sollte, denn obwohl Stalin mit Hitler einen Nichtangriffspakt abgeschlossen hatte, gelang es der deutschen Wehrmacht und der verbündeten finnischen Armee so innerhalb weniger Wochen einen Belagerungsring um Leningrad zu schließen. Hitlers Ziel war eine vollkommene Vernichtung der Stadt, da er Sankt Petersburg als Zentrum des zaristischen Russland und als Wiege des jüdischen Bolschewismus verachtete. Mit der Eroberung der Stadt Tichwin Anfang November 1941 wurde Leningrad die letzte Nachschubmöglichkeit für Lebensmittel und Treibstoff aus dem Osten Russlands genommen. Ende November wurde die letzte Stufe der Lebensmittelrationierung angewendet, bei der einem Arbeiter täglich 250 Gramm Brot, Angestellten und allen anderen nur mehr 125 Gramm zustanden. Der Roten Armee gelang es zwar im Dezember die Stadt Tichwin wieder zu befreien, trotzdem starben alleine bis zum Februar 1942 über 200.000 Leningrader den Hungertod. Zur Hungersnot kamen noch zwei extrem kalte Winter mit Temperaturen bis zu -40 Grad Celsius. Zum Teil konnte Leningrad zwar über die berühmte "Straße des Lebens", die im Winter über den zugefrorenen Ladogasee führte, versorgt werden, aber auch dieser Weg stand unter regelmäßigen Beschuss der deutschen Artillerie und Luftwaffe und wurde so oft zur Straße des Todes.
Straße des Lebens
Trotzdem gelang es den Leningradern und der Roten Armee über die Straße des Lebens Munition und Lebensmittel in die Stadt zu bringen und in der anderen Richtung Kinder, Alte und verletzte Soldaten zu evakuieren. Es gelang ebenso eine Ölpipeline und eine lebenswichtige Unterwasserstromleitung durch den See zu legen, die der deutschen Aufklärung verborgen blieb. Mit Öl und Strom war es einigen wichtigen Fabriken und Werften gelungen, die Produktion fast während der gesamten Blockade aufrecht zu erhalten. Dennoch konnte die Stadt, in der Anfang des Krieges noch über 3 Millionen Menschen lebten nicht ausreichend mit Nahrung und Brennstoff versorgt werden. Die Zustände von damals sind heute kaum noch vorstellbar. Als alle Katzen, Ratten und sonstige Tiere verspeist waren gab es für die normale Bevölkerung nur mehr weichgekochtes Leder und Tapetenkleister zu essen, auch wurden über 1000 Fälle von Kannibalismus bekannt. Dennoch gelang es der deutschen Wehrmacht nicht, den Willen der Leningrader zu brechen. Anfang 1943 wurde von der russischen Armee ein schmaler Landkorridor am südlichen Ufer des Ladogasees erobert, der die Lage in der Stadt etwas verbesserte. Aber erst die Leningrad-Nowgoroder Offensive zwischen Januar und März 1944 führte zur endgültigen Aufhebung der Leningrader Blockade und zum Anschluss der Stadt an das reguläre Schienennetz.
Parade zum Tag des Sieges
KALTER KRIEG
Die Zahlen zu den Todesopfern während der 900 Tage langen Belagerung widersprechen sich häufig, laut Wikipedia sollen nach den neuesten Schätzungen alleine in der Zivilbevölkerung über 1 Million Menschen an Kälte und Unterernährung und etwa 16.000 Zivilisten an Bombenangriffen gestorben sein. Laut Homepage der Petersburger Stadtverwaltung starben etwa 600.000 Einwohner den Hungertod. Kaum waren die ersten Leningrader als Helden der Sowjetunion und des "Vaterländischen Kriegs" mit Medaillen und Orden ausgezeichnet, begann eine erneute Säuberungswelle Stalins. Bei der als Leningrader Affäre benannten Säuberungswelle wurden wiederum ungezählte Menschen, darunter viele die als Sympathisanten des Westens verdächtigt wurden, verhaftet und in Gulags verschleppt. Mit der Verkündigung eines ersten erfolgreichen Test einer sowjetischen Atombombe begann 1949 die Phase des 'Kalten Kriegs'. Die Terrorherrschaft Stalins dauerte bis zu dessen Tod am 5. März 1953. Während des Kalten Kriegs verschloss die UDSSR ihr „Fenster in den Westen“ fast gänzlich. Leningrad entwickelte sich dadurch zur tristen Provinzhauptstadt, in der anfangs nur der Hafen, die Industrie und die Wissenschaft noch eine größere Bedeutung hatten.
Verwaltungsgebäude an der Moskauer Strasse
Stalin wollte schon vor dem Großen Vaterländischen Krieg das Zentrum Leningrads in den Süden und damit auch symbolisch näher an Moskau rücken, zu diesem Zweck entstand an der Moskauer Straße ein neues Viertel mit pompösen Verwaltungsgebäuden im imperialen Stil Stalins und mit dahinter liegenden schlichten Schlafstätten im Plattenbaustil. Diese Pläne wurden aber wegen fehlenden finanziellen Mitteln nicht vollendet. Leningrad bekam etwas mehr Luft zu atmen, als nach Stalins Tod Nikita Chruschtschow Erster Sekretär des Zentralkomitees wurde. Er beseitigte Stalins Bluthund und Geheimdienstchef Lawrenti Beria und begann mit einer politischen Wende, die auch als Entstalinisierung Russlands bezeichnet wird. Er entließ tausende politische Gefangegene und ließ kritische Bücher über Stalin erscheinen. In Leningrad wurde 1955 die erste (noch unter Stalin begonnene) Metrolinie eröffnet, die vom Wosstanija Platz in die südlichen Vororte führt (die heutige „rote“ Linie 1). In der Tauwetter-Periode unter Chruschtschow blieb Moskau zwar unangefochtene Hauptstadt, Leningrad konnte aber seinen Stellenwert als Hauptstadt der Wissenschaft und Forschung ausbauen und sogar schon ab 1957 mit Hamburg eine Städtepartnerschaft abschließen. Chruschtschow, der laut mit dem Säbel rasseln konnte, aber letztendlich immer eine friedliche Lösung anstrebte, machte sich mit einer großen Anzahl von Reformen vor allem bei führenden Funktionären unbeliebt, die sofort abgesetzt wurden, wenn sie seine Forderungen nicht erfüllen konnten. Durch eine Parteireform, die der breiten Masse von Funktionären ihre Privilegien nahm, wegen der Kuba Krise, wegen des Bruchs mit der Volksrepublik China und wegen seiner eigenmächtigen Annäherungspolitik an Deutschland verlor Chruschtschow seine Machtbasis und wurde im Oktober 1964 gestürzt.
Zeit der Stagnation
Chruschtschow vereinte das höchste Parteiamt und das Amt des Regierungschefs noch in einer Person, ihm folgten der Ukrainer Leonid Breschnew als Erster Sekretär des Zentralkomitees und Alexei Kossygin als Ministerpräsident. Unter Breschnew erhielt Leningrad 1965 den Titel einer Heldenstadt. Nach den umfangreichen Reformen Chruschtschows versprach Breschnew dem russischen Volk eine gewisse Stabilität und Beständigkeit, daraus wurde aber eine „Zeit der Stagnation“. Breschnew leitete eine Restalinisierung in Partei und Staat ein, schränkte die Meinungsfreiheit massiv ein, verschärfte die Strafen bei politischen Delikten und versuchte Stalin zu rehabilitieren. Trotzdem hatte sich zu Beginn der 1970er Jahre eine Leningrader "Untergrundkultur" aus Künstlern und Literaten etabliert, die im Selbstverlag Bücher druckten und Rock & Jazz Veranstaltungen organisierten. Das Politbüro wollte nach Breschnews Tod 1982 einen jungen potentiellen Reformer vermeiden und wählte den 68 jährigen, ehemaligen KGB Chef Juri Andropow zum neuen Generalsekretär. Er wollte neben einer Erneuerung des Sozialismus die Arbeitsproduktivität erhöhen und die unter Breschnew florierende Korruption und Bürokratie bekämpfen, dazu kam es aber nicht mehr. Andropow war schon vor Beginn seiner Wahl schwer an Diabetes und Bluthochdruck erkrankt und starb 15 Monate später an Nierenversagen. Andropow wird im Februar 1984 von Konstantin Tschernenko abgelöst, der aber wie sein Vorgänger nur für eine kurze Zeit die Führung Russlands innehatte, er starb 13 Monate nach Beginn seiner Amtszeit.
am Newa Ufer
GLASNOST & PERESTROIKA
Ab 1985 begann das verkrustete System der Parteiapparatschiks unaufhaltsam zu bröckeln. Im Februar 1986 präsentierte Michail Gorbatschow sein Reformprogramm, das letztendlich zum Zerfall der Sowjetunion führte. Gorbatschow führte eine Politik der Transparenz und Umstrukturierung ( Glasnost und Perestroika ) ein, die zwar einen Beginn der Privatwirtschaft auslöste, aber das Wirtschaftssystem der UdSSR bei sinkenden Ölpreisen zum Zusammenbruch brachte. In der Folge kam es zur Inflation mit Versorgungsschwierigkeiten bei Lebensmittel und 1991 zum August Putsch, bei dem Gorbatschow mitsamt Familie auf der Krim von orthodoxen Kommunisten unter Hausarrest gestellt wurde. Nach dem gescheiterten Putschversuch, der in Moskau von Boris Jelzin und in Leningrad von Bürgermeister Anatolij Sobtschak verhindert wurde, musste Gorbatschow den Zerfall der Sowjetunion akzeptieren und von seinem Amt als Präsident der UdSSR zurücktreten. Gorbatschow hat im Westen großes Ansehen gewonnen, da er mit seiner Politik den Kalten Krieg beendet und die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht hatte.
Smolny
1991 wurde Jura Professor Anatolij Sobtschak zum Gouverneur Leningrads gewählt. Er ließ eine Volksabstimmung durchführen, bei der 51% der Leningrader Bevölkerung für eine Rückbenennung der Stadt in Sankt Petersburg stimmten, der umliegende Verwaltungsbezirk entschied sich jedoch für die Beibehaltung des alten Namens als Leningrader Oblast. Während des August Putsches in Moskau organisierte Sobtschak eine friedliche Massendemonstration vor dem Winterpalast um Boris Jelzin in seinem Kampf gegen die alten kommunistischen Kader zu unterstützen. Bei Jelzins Privatisierung der Wirtschaft entstand das heute noch prägende Oligarchen und Staatssystem, das Korruption und ausufernde Bürokratie auf allen Ebenen fördert. Die Oligarchen bedankten sich damals bei Boris Jelzin für den schnellen Reichtum, in dem sie Jelzin bei seiner Wiederwahl 1996 massiv unterstützen. Boris Jelzin wurde zum zweiten Mal Präsident, obwohl er bei zuvor getätigten Umfragen nur 4% der Stimmen erhielt. In dieser Zeit bekam Petersburg den zweifelhaften Ruf eine "Hauptstadt des Verbrechens" zu sein, da auch kriminelle Banden und ehemalige Funktionäre ihren Anteil am neuen Wirtschaftssystem sichern wollten.
Sankt Petersburg GoogleMap
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1 Kommentar

  1. Ich war im April in St. Petersburg und kann nur sagen, dass Ihre Fotos dieser wunderbaren Stadt einfach super sind! 🙂 Werde gleich mal einen Link an meine Reisebegleitung senden und alle anderen, die dort auch waren! Wirklich schön anzusehen!!!
    Grüßle, Tine

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